Doris Meierhenrich
Ein Chormanifest von Marta Górnicka: Gesänge für eine bessere Welt
Berliner Zeitung, 01.08.2021

(…) Dass beides dennoch ungebeten mit hinüber schwappen wird ins neue Theaterjahr, drängte sich am vergangenen Sonnabend spätestens nach dem überbordenden Schlussapplaus für Marta Górnickas Chorspektakel „Still Life“ auf. Sesede Terziyan trat in grauem Bit-Anzug, Kostüm des Abends, an die Rampe und rief mit großer Emphase die neue Spielzeit aus, während Langhoff selbst sowie das gesamte Direktorium zu Hause in Quarantäne saß.

Virus und Machtfragen werden wir nicht los, wobei gerade Marta Górnickas Chortheater schon ganz auf Postpandemie und -hierarchie geeicht ist. Wie kaum ein anderes Format hat das Chorische ja unter den Distanzregeln gelitten und wie kaum ein anderes trägt es politische Sprengkraft immer schon in sich, auch ohne Lockdown. Seit ihrem ersten Stück „Hier spricht der Chor“ vor elf Jahren hat die polnische Regisseurin besondere Meisterschaft in dieser Spannungschoreografie zwischen Einheit und Vielstimmigkeit, Nähe und Ferne, Sprechen und Bewegen entwickelt. Denn sie versteht den Chor nicht als Machtmittel, sondern als kritisches Instrument, als „lebendigen Gesellschaftskörper“ und soziales Labor, in dem konträre Stimmen geschlossene Deutungshoheiten permanent durchkreuzen.

So auch in dem „Manifest“ dieses Abends, das gleich alles Seiende aufruft: die Lebenden und die Toten, Tiere, Pflanzen, Bits und Bytes, einen „Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben“, Bobby, den ausgestopften Gorilla im Naturkundemuseum und diverse „digitale Horden und Tyrannen“. Es geht um Natur, Kolonialismus und die Konservierung von Machtstrukturen, kurz: um eine ziemlich grob zusammen geleimte Generalabrechnung mit der westlichen Zivilisation selbst, die von Hannah Arendt bis Donna Haraway angesagte Denker zitiert. 

Dafür schrauben die acht Schauspieler in Digitalgrau ihre Thesen in wechselnde Rhythmen, rattern sie Silbe für Silbe wie Algorithmen ab („Hier vermehren sich nur Deutsche!“), brüllen wie Affen („Ich bin nichts weiter als eine Repräsentation der Macht“), oder beklagen nachdenklich die Wiederholung der immergleichen Gewaltmuster. Mal einzeln, mal im Kanon, dann vielstimmig anschwellend, wobei das Spektakel durch die Verschiebungen ihrer Körper im Raum sowie Górnicka selbst, die vom Publikumssaal aus gestenreich dirigiert, an Rasanz zunimmt.

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