Thomas Irmer
Die Gesellschaft auf der Bühne
Theater der Zeit 01.03.2017
DIE GESELLSCHAFT AUF DER BÜHNE
ZUM CHORTHEATER DER POLNISCHEN REGISSEURIN MARTA GÓRNICKA
Während im deutschen Theater mit den Arbeiten Einar Schleefs so etwas wie die Wiederentdeckung des Chors eingeleitet wurde, gab es in Polen lange Zeit kein vergleichbares Phänomen. Chöre blieben an die katholische Alltagskultur gebunden, Hochzeiten und Trauerfeiern vorbehalten, während sich in den Fußballstadien Männerchöre anderer Art formierten. Im Theater spielte der Chor auch dann kaum eine Rolle, wenn er eigentlich Bestandteil eines Werkes war, wie etwa in den Tragödien der Antike. Den Chor für das polnische Theater der Gegenwart wiederzuentdecken, seine Funktionen zu untersuchen und neu zu bestimmen, das blieb eine große Aufgabe.
Marta Górnicka begann ab 2009 ihre systematische Arbeit an einem eigenen Chortheater. Górnicka studierte Gesang an der Warschauer Musikhochschule „Frédéric Chopin“ und Regie in Warschau und Krakau. Diese Kombination ist grundlegend für die Entwicklung ihres Chorkonzepts von der Musik her, nicht als eine spezielle Ausformung des Sprechtheaters. Bezeichnenderweise fanden die Anfänge dieser Entwicklung auch nicht in einem Theater ihren Ort, sondern im nationalen Theaterinstitut in Warschau. Das Theaterinstitut ist eine Kombination aus Dokumentationszentrum, Verlag, Wissenschaftsforum und Veranstaltungsort – und produzierte in diesem Fall auch die erste große Arbeit Górnickas, die zunächst in den Räumen des nach Zbigniew Raszewski benannten Instituts im Ujazdów-Park gezeigt wurde.
Als im Juni 2010 der Chór Korbiet (Frauenchor) in Erscheinung trat, war das für das polnische Theater eine Sensation. 25 Frauen verschiedenen Alters und verschiedenster Erscheinung (in Alltagskleidung und augenscheinlich keine Schauspielerinnen) sprechen chorisch über Kochrezepte, um dann zu Michel Foucault und Simone de Beauvoir zu gelangen und schließlich einen Begriff aus „Antigone“ als Zentrum des Ganzen aufzufächern: metoikia bezeichnet die freie, aber fremde Frau in der Polis, gleichzeitig daran erinnernd, dass der antike Chor Männern vorbehalten blieb. Mit „Hier spricht der Chor“ (2012) war der Frauenchor mit feministischen Bezügen zwischen ferner Vergangenheit und Gegenwart ausgestattet, die Stoßrichtung war freilich das unmittelbare Jetzt der vielfach aus den Kampfzonen des Lebens verdrängten Frau – gerade in Bezug auf die Rolle der Frau in Polen. Der Arbeit am Sprechakt war bereits – wie in folgenden Inszenierungen Górnickas – das Erreichen von Grenzbereichen eigen: Flüstern, Atmen, Röcheln, Verstummen. Dazu eine ausgefeilte Choreografie, die in den wechselnden Formationen die Individualität der Choristinnen zuließ, oft sogar hervorhob – bis sie in bestimmten Momenten regungslos auf den Boden sinken. Am intensivsten war jedoch ein solcher Abend zu erleben – und dann auch weitgehend zu verstehen –, wenn man unmittelbar hinter oder neben Marta Górnicka saß. Als körperlich mitagierende Dirigentin und Chorleiterin mitten im Publikum, die sich schon von den Eselsohren her zusammenrollende Sprechpartitur vor sich, das Publikum gleichsam auf ihren Chor zutreibend – oder diesen an sich heranziehend. Mit dem Chór Korbiet war der Chor fürs polnische Theater neu erfunden, mit großer Wirkung. Górnicka sagte später, sie habe „eine Leiche reanimiert“, und das Theaterinstitut schickte diese Arbeit um die Welt. Die Erfahrungen waren durchaus widersprüchlich, zwischen enthusiastisch aufgenommenen Gastspielen in Israel/Palästina und den USA und teils heftiger Ablehnung in Polen selbst.
In der nachfolgenden Arbeit „Magnifikat“ (2011) lenkte sie die Textmontage noch konzentrierter auf die Darstellung der in der katholischen Kultur gespaltenen Weiblichkeit zwischen der Verklärung Marias und einem modernen Frauenbild – wiederum mit einem antiken Rückgriff, diesmal auf die Agaue aus den „Bakchen“ des Euripides als eine grausame Korrespondenz zur christlichen Maria. Mit „Requiemmaschine“ (2012) erweiterte sie die Besetzung des Chors durch Männer – und das Thema um die Erschöpfung des modernen Menschen in einer technisierten Welt. Wesentliche Quelle für das Libretto waren Texte des polnischen Dichters Władysław Broniewski (1897–1962), der in seinen Werken das Pathos der Romantik mit den Experimenten der Avantgarde und Bruchstücken der Alltagsprache kombinierte – was Górnicka von Anfang an in ihren Textmontagen getan hatte. Doch Broniewski, der in futuristischer Diktion schrieb: „Wir sind Roboter des Wortes“, gibt einen neuen Ton vor, der im chorischen Sprechen einen Ausdruck von Künstlichkeit gebietet. Für Górnicka, in der Weiterentwicklung ihres chorischen Theaters, war das die Möglichkeit zur stimmlichen Verfremdung. Die Choreografin Anna Godowska, seit „Hier spricht der Chor“ kongeniale Partnerin Górnickas, entwickelte daraus noch schroffere Formationen.
Die Parallelen zu den Arbeiten Schleefs, die zuvor schon von deutschen Kritikern festgestellt wurden, lagen nahe. Doch Górnicka waren die Chorkonzeptionen Schleefs, mit denen sie sich während des Studiums beschäftigt hatte, „musikalisch zu eindimensional“. Bei ihr geht es nicht um die szenische Tiefenstruktur von Stücken, die Schleef mit Chören neu interpretiert hatte, sondern in erster Linie um den Chor als soziales Gebilde. Es geht darum, die Konflikte innerhalb dieser Struktur anzusprechen und die in der Wirklichkeit gar nicht mehr wahrnehmbaren Kollektive in ihrer Zusammensetzung aus Einzelnen zu zeigen. Das entspricht nicht nur der polnischen Realität, entsteht aber aus ihr, mit spezifischen Inhalten, die zugleich allgemein sind. Ihre Chöre, in denen zuweilen auch Duette, Terzette sowie Soli erscheinen, kämpfen um die Entstehung einer Gemeinschaft – das ist der Realismus der Form eines chorischen Theaters.
Für „M(other) Courage“ (2015) arbeitete Górnicka erstmals an einem deutschen Stadttheater, dem Staatstheater Braunschweig, mit einem Chor aus sechs Schauspielern, Schauspielstudenten und gecasteten Laien, was hier natürlich eine Variante der inzwischen weit verbreiteten Bürgerbühne darstellt. Das Libretto bezog sich in einigen Motiven auf Bertolt Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ über die scheinbar unparteiische Verwicklung in den Krieg, nahm aber vor allem die einander widersprechenden Reden der sogenannten Flüchtlingsdebatte auf. Die Chorregisseurin war mit ihrer auf längeren Probenzeiten und Austausch mit den unterschiedlichen Akteuren beruhenden Methode, mit allen Mitteln ihres Theaters und dem von ihr montierten Text auf der Höhe der Zeit: Der auf einem schwarz spiegelnden Boden agierende Chor trat als theatral-musikalischer Sprechakt einer in sich kontroversen Gemeinschaft in Erscheinung. Diese kämpfte nicht um ihre Entstehung, sondern um ihren Erhalt. //